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Meisterwerke
Opus 99
Der Blaue Kreis
HAW, 2009, Museum für
Modernste Kunst
Die erste
Begegnung
Mit Euphorie
überschlugen sich die Kritiker unmittelbar nach Vorstellung dieses
Bildes. Stellvertretend für die Zunft lassen wir XY zu Wort kommen,
der bemerkt:
„Betrachtet
die Schönheit dieses Kunstwerkes und ergötzt euch an dem endlosen
spirituellen Fluss von Juwelen offenbarender Weisheit.“
Eine
überreichhaltige Formensprache, die man ohne Zögern als pompös
bezeichnen kann, zieht den Betrachter in ihren Bann und weckt das
Interesse zur ausführlichen Erkundung. Verschiedene
Gestaltungsebenen überfluten die Sinneswahrnehmung und modellieren
ein Sittengemälde der aktuellen Kampfkunst
Szene.
Die
Aussage
Es
geht um die
Annahme von Lehrmeinungen, die wider besseres Wissen dem Herdentrieb
der Selbsttäuschungskultur den Vorzug geben. Es geht um eine
Kraftprobe zwischen eigener Erkenntnis und der Unterwerfung unter
eine Gruppengleichförmigkeit mit dem Ziel des Sammelns von
Rangemblemen und dem damit verbundenen
Prestige.
So wandelt sich Opportunismus von einer
Beleidigung zu einem Fachbegriff der Leistungsgesellschaft und zu
einer gleichermaßen notwendigen wie vorausgesetzten Handlung, die
das reibungsfreie Fortkommen in einem durch bunte Bänder geprägten
hierarchischen Sozialgefüge
garantiert.
Dieses Phänomen wird durch das Bild in seiner
ganzen Vielfalt veranschaulicht. Im Innern der
Fachverbandspolitik, verkörpert durch die einheitlich grüne
Fläche, ein bewusstes Grün als Attraktor des durchschnittlichen
Gürtelfarbenniveaus von Anti-Dojos, herrschen Sicherheit und
Geborgenheit. Jeder Versuch, diese Gemeinschaft zu verlassen, führt
zu den äußeren Bildregionen, die durch harte Kontraste, Ecken und
Kanten geprägt sind. Jenseits der Grenze drohen Unsicherheit und
Chaos, lauern unabsehbare Gefahren losgelöst von der etablierten
Prüfungsordnung und erlaubter, ja erwarteter Verhaltensmuster. Und
es ist diese Analogie des Abweichens und Auffallens, vor der
das Werk eindringlich
warnt.
Das Bild ist vom Dialog geprägt und lockt
den Zuschauer in ein Zwiegespräch mit seiner enormen
Freigiebigkeit an visueller Akkupunktur der ästhetischen
Bruchstellen von gesundem Menschenverstand. Hierbei ermöglicht der
unaufdringliche Verzicht auf surrealistische Wasserbüffel
Darstellungen die subtilen Details zu absorbieren, die sich nach
einigen Tagen ununterbrochenen Betrachtens
offenbaren.
Form und
Farbe
Der Unterschied zwischen obrigkeitszertifizierter
Lehrmeinung, hier dem Titel des Bildes, und eigener Erkenntnis
erzeugt einen Konflikt, dessen Lösung dem Gürtelkonsumenten eine
prinzipielle Einstellung zu Loyalität und Aufgabe des eigenen
Willens
abverlangt.
Hierbei trägt das scheinbar vorhandene Viereck im
Bildmittelpunkt zur Klärung bei, denn was ist ein Kreis anderes als
ein Unendlicheck, das von niemandem erzeugt werden kann. Wieder
einmal setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Weg das Ziel
ist.
Auf dem Weg, dem Do der Kampfkünste, zum Kreis
stellt sich dann die Frage, ab wieviel Ecken ein Vieleck als Kreis
gelten kann. Aus der Willkürlichkeit dieser Entscheidung, ja der
Unmöglichkeit eine Grenze abzuleiten oder zu beweisen, kann man als
logische Folgerung bereits ein Viereck als Kreis bezeichnen. Diese
Einsicht überträgt sich uneingeschränkt auf die Anforderungen von
Gürtelniveaugrenzen der Kampfkunstdisziplinen und führt dadurch die
Behauptung der Existenz von unqualifizierten Farb- und
Schwarzgurtträgern ad
absurdum.
Die zweite Komponente des Bildtitels,
die latente Frage nach Grün oder Blau, wird gleichermaßen zum
Test des Betrachters, ob er die einschränkende Willkürlichkeit der
Sprache verstanden hat und sich von dieser lösen
kann.
Erst wenn weder nach Form noch Farbe gefragt wird,
wenn der Titel ohne Einschränkung akzeptiert wird, erst wenn die
gelehrte Wirklichkeit und nicht die erlebte als Wahrheit angenommen
wird, erst dann kann man das Bild in seiner ganzen Verschränkung
verstehen und als Symbol des Lebensgefühls einer modernen
Kampfsportgeneration
würdigen.
Nachfolger
Oft wurde versucht, das vorliegende Werk
zu kopieren, aber jeder Ansatz scheiterte an den inhaltlichen und
formalen Anforderungen. Das Spektrum der Nachahmungen reicht dabei
von teilweise geglückten Exemplaren,
z.B.
bis
zu tölpelhaften Fälschungen, wie
etwa
Über den
Tellerrand
Die Akzeptanz einer offensichtlich
falschen Lehrmeinung und den mit ihr verbundenen, nicht selten
verheerenden, Konsequenzen, ist die Grundlage der sogenannten „Integrativen
Intelligenz“,
einem neuartigen Konzept, das in vielen Bereichen eine zunehmende
Rolle spielt.
Diesbezüglich bleibt zu vermerken, dass
das „Blaue
Kreis“
Bild als Standardverfahren zur Bestimmung des Integrativen
Intelligenzquotienten IIQ eingesetzt
wird.
Schlusswort
Das verblüffte
Publikum verlässt die Veranstaltung in dem Bewusstsein, welch
ausgeklügelte Erklärungen der menschliche Intellekt ersinnen kann,
wenn er den Weg des geringsten Widerstandes angeboten bekommt,
motiviert von sozialem Druck und offensichtlicher
Massenverblödung.
© 2010
DEA |