Tagtraum
Eine Vor-Ort
Reportage
Jetzt, vier Wochen nach dem Sturz des
Regimes, wurden erste Einzelheiten der Ereignisse
bekannt. Der Antisensei XY ließ sich
zuletzt nur noch als großer gürtelspendender
Vorsitzender anreden. Offensichtlich war er schon bei
den ersten Anzeichen der Tumulte geflohen. Die Drohung, im Falle seiner Absetzung
sämtliche Prüfungsurkunden zu vernichten und alle Beteiligten
zu Weißgurten zu degradieren, hat er nicht in die Tat
umgesetzt.
Die Existenz der
sogenannten WMD (Weißgurte zur Massen Degradierung) wurde ja als
entscheidendes Motiv für das
Eingreifen
angeführt. Eine andere Theorie besagt jedoch, dass die
federführenden Fachverband Funktionäre schon länger
planten, ihren ehemals verhätschelten
Quotenkönig kalt zu stellen. Da der Antisensei
über die landesweit drittgrößten Unterstufenreserven
verfügte, befürchtete man, er wolle einen eigenen Verband
gründen.
Unter dieser
Perspektive ist die Aktion auch als Warnung für ähnlich
positionierte Egomanen zu deuten. Wiederholt sprach man
von einer
Achse
des Spaßes und versprach, den ehemaligen Scharlatan Verein zu
einem leuchtenden Beispiel des traditionellen Budo
zu machen. Für die nähere Zukunft plane man bereits die
ersten allgemeinen, freien und echten
Prüfungen.
Noch während der
Vereinsbetrieb von einer internationalen Blaugurtgruppe auf
Kampfkunst umgestellt wurde, verkündete ein treuer Vasall des
Augenwischers, dass die Lage unter Kontrolle sei und es am folgenden
Wochenende eine große Familienveranstaltung mit Kaffee, Kuchen und
Graduierungen geben solle.
Kurz darauf wurde
der Antisensei in seinem Versteck aufgespürt,
einer
alten Sporttasche in der Umkleidekabine, die notdürftig
mit Werbezetteln für neue Anfängerkurse getarnt war. Offensichtlich
leistete er keinen Widerstand. Mit den Worten „Ich
bin XY, der völkerrechtlich beliebte Sensei des
*** Vereins“, ergab
er sich
einer
Unterstufeneinheit.
Gerüchten zufolge
wurde er von einem ehemaligen Sponsor
verraten,
der als
Gegenleistung auf den Auftrag für eine Aufklärungskampagne
über das gestürzte Regime spekuliert. Schon vorher gab es viele
Hinweise auf den Aufenthaltsort des Gesuchten. Da half wohl
auch die ausgelobte
Belohnung, ein Butterkeks und
zwei Mozartkugeln.
Einer der ersten,
die sich lossagten, war der frühere stellvertretende
Antisensei, der betonte, selbst in die Irre geführt worden zu sein
und nach eigener Aussage einem mehrjährigen Blackout erlegen
war. Er bedauerte das
Missverständnis und versicherte, selbst nie aktiv an
Gürtelschenkungen beteiligt gewesen zu sein.
Der
Antisensei ist derweil in einem geheimen Fitness Center
untergebracht. Um ihn ruhig zu stellen, wurde ihm eine Pappkrone
sowie ein Styroporzepter übergeben und mehrmals am Tag
versichert, dass er der Chef sei und auf bedingungslose
Loyalität bauen könne. Seine wiederholten Versuche, die
Belegschaft der Sportanlage mit Phantasiegraduierungen und mit aus
Bettlaken selbstgeklöppelten Gürteln in seinen Einflussbereich zu
ziehen, blieben hingegen erfolglos.
Während die Mehrheit den Wechsel
vollkommen unbeteiligt aufnahm, gab es auch vereinzelte Aktionen für die
Reinthronisation des Quacksalbers. Eine
Gruppe Demonstranten, die mit einem Sitzstreik ihre gewohnte
quartalsmäßige Hochgraduierung durchsetzen wollte, wurde
daraufhin mit bunten Gummibändern in den nahegelegenen
Streichelzoo gelockt.
Ein besonders perfides Täuschungsmannöver
glückte an anderer Stelle. Um unerkannt zu bleiben, haben sich
ehemalige Mitläufer aus der Oberstufe grüne Gürtel umgebunden und
anschließend in das Unterstufentraining gemischt; sie werden
wohl niemals entdeckt werden.
Erschütternde Szenen spielten sich in
mehreren Aerobic Studios ab. Eine Gruppe ehemaliger Antisensei
Höriger hatte dort nach
ihrer Flucht den, Zitat, „Meister
des Hauses“
gesucht, dem sie sich bedingungslos unterstellen wollte.
Insgesamt könnte
man mit der Entwicklung zufrieden sein, wären da nicht die Gerüchte,
dass man nur einen Doppelgänger des Antisensei festgesetzt habe. Der
wahre XY soll untergetaucht sein und jetzt mit
selbstgemachten Feinstaubplaketten handeln.