Prüfungen
Der Sinn von Prüfungen liegt darin, von einem weiter
Fortgeschrittenen eine realistische Einschätzung seines Könnens zu
erhalten. Eine bestandene Prüfung bedeutet eine Bestätigung des
bisher erreichten Niveaus und dass man sich auf dem richtigen Weg
befindet. Eine nicht bestandene Prüfung bedeutet, dass die nächst
höhere Stufe noch nicht erreicht ist. Prüfungen können nur den Stand
dokumentieren. Jemand, der nach einer Prüfung formal eine bestimmte
Graduierung hat, hatte diese vorher inhaltlich auch schon. Jemand
der sie vorher nicht hatte, wird sie inhaltlich durch einen Stempel
im Verbandsausweis nicht bekommen.
Soweit die Theorie. In der Praxis sind Prüfungstermine
zu Schenkungsveranstaltungen verkommen, bei denen
man den Teilnehmern formal Fähigkeiten bescheinigt, die sie nicht
besitzen.
Prüfungen sollten aufgefasst werden, wie eine
Untersuchung beim Arzt, ehrliche Diagnose und Annahme von
Therapievorschlägen. Aber, um bei dem Bild zu bleiben, viele Leute
gehen zu solchen Ärzten, die ihnen immer bescheinigen, dass sie
gesund sind. Wird dem Patienten im Verlauf der Untersuchung oft noch
sein schlechter, nicht selten katastrophaler, Zustand deutlich
gemacht, gibt es danach ein Dokument, das gute Gesundheit
attestiert. Röchelnd und blutspuckend nehmen es die Patienten
freudig und erleichtert entgegen. Der Budogürtel wird zum modischen
Accessoire der Selbsttäuschung.
Man tut dem Einzelnen und dem Trainingsbetrieb damit
keinen Gefallen. Das Nichtbestehen von Prüfungen ist notwendig, um
Leuten klarzumachen, dass sie sowohl mit ihren Techniken, aber oft
auch mit ihrer Einstellung, ihrem Verhalten, ihrer Vorstellungswelt
nicht voran kommen.
Wenn das so weitergeht, unterscheidet sich die Oberstufe
von der Unterstufe bald nur noch durch die Farbe der
Gürtel.
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